Make Chasselas great again!
Sommelier Jérôme Aké Béda erzählt die Geschichte sichtlich mit Vergnügen: Gut zwei Jahre sei es her, da habe im Restaurant L’Onde eine muntere Truppe aus der Finanzbranche gegessen. Einer der Gäste tat lauthals seine Abneigung gegenüber der weissen Rebsorte Chasselas kund. Was etwas unpassend war, denn das Lokal in St-Saphorin ist bekannt dafür, dass man dort regionale Weine auftischt.
Beim Käsegang habe Aké Béda in einer Karaffe einen bernsteinfarbenen Tropfen serviert: «Französischer Meursault! Endlich Wein!», habe besagter Manager laut gerufen. Worauf der Sommelier die zugehörige Flasche mitten in die Runde auf den Tisch gestellt habe: einen 1976er Clos des Abbayes, einen gereiften Waadtländer Chasselas aus der Appellation Dézalay also. «Der Mann wäre am liebsten im Boden versunken.»
Was hat man dieser Traubensorte schon unrecht angetan. Obwohl sie an jedem vierten Rebstock in der Schweiz hängt, denken viele Geniesser noch immer, es handle sich bei Chasselas um einfachsten Apéro- und Fonduewein. Um Literqualitäten, die man höchstens zum Kochen einer Sauce brauchen könne. «Make Chasselas great again!», lautet eines der Credos von Aké Béda.
Dreifache Sonne hilft mit
Schon die Anreise mit dem Zug von Lausanne nach St-Saphorin weckt Assoziationen zu den bekannten Abfüllungen der Gegend. Einerseits lesen sich die Ortsangaben auf der Anzeige im Waggon wie eine Weinkarte: «Lutry, Epesses, Villette . . .» Andererseits sind durchs Fenster die steilen, von Menschenhand geschaffenen Terrassen zu sehen, wo die Chasselas-Traube seit dem Mittelalter angebaut wird.
Und wo die lokalen Trauben von der sogenannten dreifachen Sonne profitieren. Gemeint ist erstens das eigentliche Sonnenlicht, zweitens die Lichtspiegelung durch den Genfersee, drittens die tagsüber in den Terrassen gespeicherte Wärme, die nachts wieder abgegeben wird.
Auch das Dörfchen St-Saphorin mit seinen engen Gassen ist in den Hang gebaut. Hier arbeitet Jérôme Aké Béda seit mittlerweile zwölf Jahren; 2015 wurde er vom «Gault Millau» zum «Sommelier des Jahres» gekürt. Der aus der Elfenbeinküste stammende 56-Jährige sieht sich selbst als Botschafter für den Chasselas, die Rebsorte, die im deutschen Sprachraum Gutedel und im Wallis Fendant genannt wird. Seine Passion führte unter anderem zum Buch «Les 99 Chasselas à boire avant de mourir» – darin versammelt sind viele der wichtigsten Repräsentanten.
Wieso genau diese Auswahl? Sauvignon blanc, die international so renommierte weisse Sorte, schmeckt doch viel verführerischer – nach Stachelbeeren und exotischen Früchten. Chardonnay, wenn er wie im Burgund im Barrique ausgebaut wird, ist viel buttriger und breiter. Wie kann man sich als Kenner der Materie da als Chasselas-Liebhaber outen?
Wo die jungen Weissweine aus dieser Sorte doch meist vor allem nach Apfel riechen und aromatisch eher zurückhaltend daherkommen. «Der Chasselas ist wie ein Stammesältester in meinem Herkunftsland», sagt Jérôme Aké Béda. Die Weine sprächen sehr leise zu einem, man müsse sich viel Zeit nehmen, um ihnen zuzuhören. Ist er da nicht zu pathetisch?
Einem Sommelier, der Wein mit Speisen zusammenbringen muss, komme diese «Zurückhaltung» entgegen, so Aké Béda: «Ich kenne keinen Wein, der sich mit so vielen verschiedenen Gerichten kombinieren lässt.» Er nennt die gängigen Mariagen mit Käse oder Süsswasserfisch («egal, ob gebraten, grilliert oder pochiert»). Aber auch überraschendere Kombinationen, etwa mit Rindfleischtatar oder Schokoladenkuchen.
Ursprung am Genfersee
Die Asiaten entdecken wohl auch deshalb gerade den Chasselas, weil er hervorragend zu traditionellen Gerichten wie Sushi passt. Oder weil er sogar mit scharfen Zubereitungen bestehen kann. In Tokio und Kyoto werden die besten Tropfen aus dem Waadtland in rund vierzig, teils gehobenen Restaurants angeboten – manchmal für umgerechnet bis zu hundert Franken pro Flasche.
Nicht schlecht für einen kleinen «Schweizer», ist man geneigt zu sagen. Denn anders als man früher annahm, hat die Traubensorte, die im grösseren Umfang in Rumänien und Ungarn als Tafeltraube kultiviert wird, ihren Ursprung nicht im Nahen Osten, sondern am Genfersee.
Der Ampelologe José Vouillamoz hat dies vor einigen Jahren belegt. Darin sehen manche auch den Grund dafür, dass die Sorte am Lac Léman so vorteilhaft gedeiht. Sie hat sich den Begebenheiten angepasst: «Sie kommt hier mit Trockenheit zurecht, aber auch mit Regen», so Béda. «Und dank der speziellen Frische in den Weinen dürfte das Interesse noch steigen, auch wenn die Klimaerwärmung noch andauert.»
Seine These: Der Schweizer Chasselas könnte sich – womöglich gar international – zu einer Spezialität auf dem Weinmarkt entwickeln, analog zu den weissen Sorten wie Heida oder Petite Arvine aus dem Wallis.
Schliesslich findet auch Jérôme Aké Béda, dass es nun genug der trockenen Fakten ist. Er stellt Gläser auf den Holztisch und beginnt einzuschenken. Es geht ihm darum, zu zeigen, dass da mehr Aromen im Chasselas sind als «nur» Apfel: «Blüten sind zu riechen, Zitrusfrüchte, Quitten.»
Das Gespräch kreist bald ums sogenannte Terroir: Der Sommelier ist fest davon überzeugt, dass Chasselas die Bodenqualität, das Mikroklima und die individuelle Arbeit des Winzers zur Geltung bringen kann: «Ein Chasselas, der vor der Kirche wächst», sagt er, «schmeckt anders, als einer, der dahinter wächst.» Mit jedem neuen Tropfen, den Jérôme Aké Béda einschenkt, wird die Diskussion angeregter.
«Haben Sie die mineralischen Noten bemerkt? Als ob man an einem Kieselstein aus einem Bach lutschen würde.» Eingänglich erklärt der Sommelier damit jene Qualität von Wein, die Mineralität heisst und deren Umschreibung vielen Fachleuten Mühe bereitet.
Kein Bodybuilder
Was alle degustierten Weine gemeinsam haben: eine Unbeschwertheit und Schlankheit, etwas gänzlich Unaufdringliches. «Ja, Chasselas ist kein Bodybuilder, genau das macht ihn sympathisch», findet Aké Béda. Was ihm am Herzen liegt: Nur grosse Weine seien lagerfähig: «Gute Chasselas sollte man da unbedingt dazuzählen.» Nun stellt er grössere, sehr bauchige Gläser auf, wie man sie gewöhnlich eher für Chardonnay verwendet.
Hinein kommt ein Dézaley Clos des Abbayes 1979. Dazu serviert Béda Hartkäse – auch sich selber hat er einen Teller hingestellt, ein Glas eingeschenkt. Da sind Mandeln zu riechen, Hummus, Lindenblüte, Akazie, Tarte Tatin. Wer den Wein damals kaufte, hat dafür nicht mal zwanzig Franken bezahlen müssen.
Tatsächlich: Wer sich die Zeit nimmt, zu hören, was der Chasselas zu erzählen hat, stösst auf interessante Geschichten.
Ausgewählte Chasselas
Jérôme Aké Béda empfiehlt sechs Weine, die das Potenzial der Sorte Chasselas illustrieren. Wir haben die unterschiedlichen Tropfen, im Fachhandel erhältlich, für Sie degustiert:
- Yvorne Grand Cru 2016, Château Maison Blanche, ca. 28 Fr. Apfelige breite Nase, gut eingebaute Säure, eher körpervoll, Apfel, Pfirsich, mineralische Anklänge, Honignoten. Eine ziemliche Wucht!
- Dézaley Grand Cru 2015, Pierre-Luc Leyvraz, ca. 23 Fr. Verschiedene Blüten in der Nase. Zurückhaltende Säure, angenehm schlank, Granny-Smith-Apfel, auffallend mineralisch. Frisch wie ein Schluck Wasser aus dem Bergbach!
- St. Saphorin Grand Cru 2016, Réserve du Conseil D’Etat, Domaine des Faverges, ca. 23 Fr. Fruchtig, etwas Kräuterwürze in der Nase. Beschwingte Säure, saftig, mit viel aromatischem Druck (gelber Apfel, ein Hauch Mandarine). Als Begleiter zu eher schwerem Essen. Bio.
- Bianco di Pugerna 2016, Vini Rovio Ronco, ca. 20 Fr. Zitrone, leichte Schwefelnoten (Zündhölzer). Tragende Säure, frisch und exotisch, an Nüsse erinnernd. Der andere Chasselas aus dem Tessin.
- Doudou 2013, Aigle Grand Cru, Stéphanie Delarze, 37,5 cl, ca. 28 Fr. (Süsswein). Aus Chasselas kann auch Süsswein gemacht werden: komplexe Nase (u. a. Cassis, Rose, Dörraprikosen, Haselnüsse). Likörartig, aber doch verspielt und frisch; Mandarine und Datteln, sehr lang und anhaltend saftig.
- L’Espiègle Brut, Dimitri Engel, St. Blaise, ca. 23 Fr. Ein Chasselas-Schaumwein? Überzeugt mit feiner, aber intensiver Perlage. Apfel, Zimtschnecken, Pfirsich in der Nase. Trockener Antrunk, intensive Aromatik.
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